Freitag, 13. November 2015

Die Kunst, unser Päckchen zu tragen


Manchmal wird man durch Menschen inspiriert, die ein noch größeres "Paket zu tragen" haben, als man selbst. In meinem Fall sind das die Morbus Crohn-Patienten. Eine traf ich 2009 im Klever Krankenhaus, als ich über Weihnachten dort als Notfall eingewiesen wurde, weil ich so oft Durchfall hatte, dass die Mangelerscheinungen meines Körpers ihren Tribut forderten. Schwindel, Flüssigkeitsarmut, etc. Ich lag also am Tropf mit schlimmen Bauchkrämpfen, als ich meine Bettnachbarin kennen lernte. 22 Jahre alt, in der Lehre als Krankenschwester in eben diesem Krankenhaus, total nett und offen...und Morbus Crohn seit Monaten. Mit Fieberschüben, 10 bis 20 Mal nachts aufs Klo rennen. Jede verdammte Nacht! Ich hatte nach einem Tag ohne Gerenne wieder die Kraft, aufzustehen, und konnte meine Reserven wieder aufbauen. Sie lag mit 39 Fieber im Bett und wartete auf die nächste Cortisonflasche. Bei näherem Nachfragen, was sie denn so isst, von wegen besondere Ernährung, kam der trockene Kommentar: "Ich esse alles, worauf ich Lust habe! Kommt ja nachts sowieso alles wieder raus." Sie war einer der nettesten, herzlichsten Menschen, die ich jemals getroffen habe. Und ich war zum ersten Mal erleichtert, dass ich "nur" tagsüber meine Probleme hatte. Und auch mit Pausen von ein bis zwei Tagen. 
Ein Jahr später, ich war gerade aus dem Gröbsten raus, was meine Depressionen und meine Angststörung wegen Darminius betraf (die Angst, es nicht rechtzeitig zum Klo zu schaffen und deshalb nicht mehr weiter weg zu fahren, also nur noch in sicheren Umgebungen sein zu können), erzählte mir eine meiner engsten Freundinnen von einer anderen Morbus Crohn-Geschädigten, die immer mit Wechselwäsche, Klopapier, Mülltüte und Klappspaten bewaffnet durch die Gegend zieht. Sie hatte sich eines Tages entschieden, ihr Leben nicht mehr von ihrer Erkrankung bestimmen zu lassen. Also immer mit gepacktem Rucksack dabei, auf alle Eventualitäten vorbereitet. 
Ich fand diese Einstellung bewundernswert und habe seitdem auch immer mein eigenes "Notfall-Kit" dabei. Das beinhaltet jetzt zwar nicht den Klappspaten, aber die fragenden Blicke, wenn man beim Tasche durchsuchen Klopapier, ne Tüte und nen frischen Slip auspackt, sind immer wieder echt amüsant. Und der interessante Nebeneffekt dabei: Weil ich die Sicherheit habe, auf alles vorbereitet zu sein, sinkt die Wahrscheinlichkeit, solch einen Notfall wirklich zu erleben. Ich trickse meine Psyche und meinen Darm also ein bißchen aus. Brauchte dafür nicht mal Verhaltenstherapie. 
Lernen, mit einer chronischer Erkrankung zu leben, ist ein Prozess und funktioniert nicht sofort. Manchmal gehe ich ganz cool damit um, an anderen Tagen macht es mich wieder total fertig, nicht zu den "normalen" Leuten zu gehören. Dann wünsche ich mir nichts anderes, als eine ganz normale Verdauung zu haben, ohne den ganzen Mist. Deshalb an alle "Nomalen" eine Bitte: Habt Geduld mit uns. Wir Reizdarmmenschen sind komisch, ich weiss, wir haben echt bekloppte Probleme und es dreht sich immer alles ums Essen, Blähungen, Klosuchen und spontane Zusammenbrüche. Aber in den Zeiten, in denen wir neuen Mut finden, in denen mal Ruhe herrscht im Bauch und wir scheinbar vor Lebenslust strotzen, geben wir alles an Liebe und Spass wieder zurück, was ihr uns geschenkt habt! Versprochen!